Ein Gespräch mit Prof. Dr. Jens Schlieter, Universität Bern 3. Mai 2022, Bern

Jens Schlieter ist seit 2009 Professor für Religionswissenschaft an der Universität Bern. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit diversen Themenbereichen, darunter Sprachphilosophie in religiösen Traditionen, Bioethik der Religionen, indo-tibetischer Buddhismus, systematische und theoretische Religionswissenschaft und Nahtoderfahrungen. Mehr Informationen zu Herrn Schlieter und seinen Forschungen lassen sich auf der Webseite der Universität Bern finden.
Nahtoderfahrungen. Ein Thema, das auch ohne Erfahrung am eigenen Leib immer wieder im Alltag anzutreffen ist. Sei es in Büchern, Filmen, Fernsehserien oder Graphic Novels, das Phänomen wird immer wieder thematisiert und als bedeutendes und oftmals lebensveränderndes Ereignis in vielen Unterhaltungsmedien zum Besten gegeben. Am 3. Mai 2022 habe ich mit Professor Jens Schlieter vom Institut für Religionswissenschaft an der Universität Bern zu einem Interview getroffen. In diesem Gespräch sollte der Nahtoderfahrung auf den Grund gegangen werden, um zu zeigen, dass die Untersuchungen des Phänomens auch für die Religionswissenschaft wichtig sind.
Das Interview wurde mündlich geführt und für die Verschriftlichung leicht editiert
Was ist eine Nahtoderfahrung?
Doch worum handelt es sich eigentlich, wenn man von Nahtoderfahrungen spricht? «Die Frage danach, was eine Nahtoderfahrung eigentlich ist, ist nicht so einfach zu beantworten», so Herr Schlieter. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Nahtoderfahrungen dann auftreten können, wenn ein Mensch dem Tode nahe ist, oder sich dem Tode nahe fühlt. Dabei kommt es in einer kurzen Zeitspanne zu intensiven Visionen, welche sich von Mensch zu Mensch unterscheiden. Herr Schlieter nennt hier verschiedene Arten von Visionen. Dazu gehört beispielsweise das Austreten aus dem Körper. Hier wird oft berichtet, dass die Betroffenen ihren Körper und die Situation, in welcher sich dieser befand, von aussen betrachten konnten. Andere berichten über einen Lebensfilm, bei welchem ihr Leben in Form von Erinnerungen beginnend in der Kindheit in schneller Abfolge an ihnen vorüberzieht. Des Weiteren wird aber auch von paradiesischen Zuständen berichtet, von Begegnungen mit Verstorbenen oder mit Lichtgestalten. Eine kleine Anzahl der Berichte beinhaltet auch klar religiöse Visionen, welche der jeweiligen Tradition des Berichtenden entsprechen.
Zwei Seiten: Glaube und Wissenschaft
Wichtig ist hierbei, dass immer zwei Seiten zu beachten sind. Einerseits werden Nahtoderfahrungen für denjenigen, der sie erlebt, oftmals als keiner weiteren Erklärung bedürftig empfunden. «Aber für jemanden, der von aussen darauf schaut», erklärt Herr Schlieter, «ist eine Nahtoderfahrung nicht notwendigerweise evident, sondern es können eine Vielzahl von Erklärungen aufgeführt werden.» Mittlerweile lassen sich verschiedene neurophysiologische und psychologische Erklärungen für Nahtoderfahrungen finden, was auch Grund für Konflikte sein könnte. «Die Frage ist, inwiefern es denn wirklich zu einem Konflikt werden muss. Es gibt viele Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler, die trotz ihres Vertrauens in die Naturwissenschaft und ihrer Erklärungsmöglichkeiten an Dinge glauben, die durch diese Wissenschaft nicht erklärbar sind. Schwieriger wird es, wenn in der Weise der Konflikt entsteht, wie dieses Phänomen erklärt wird.» Anscheinend stellt es sich als äusserst schwierig heraus, Nahtoderfahrungen empirisch zu beweisen. Herr Schlieter erzählt von Versuchen in Spitälern, wo auf Schränken in Operationssälen verschiedene Bilder angebracht wurden. Menschen, die in einem solchen Saal das Austreten aus dem Körper und das Beobachten der Situation von oben erlebt hatten, wurden später gefragt, was sie für Bilder gesehen haben. «Aus dieser experimentellen Anordnung ist bisher noch keine Studie publiziert worden, die irgendeine Evidenz für die Bewahrheitung dieser Behauptung erbracht hat. Und insofern gibt es schon Konflikte. Wenn es um religiöse Sinndeutungen geht von innerpsychischen Phänomenen, können die sich durchaus mit naturwissenschaftlichen Erklärungen vertragen, denn die stehen auf einer ganz anderen Ebene. Aber in diesem Beispiel würde man einen direkten Konflikt austragen müssen zwischen Behauptungen von Erfahrenden und den theoretischen Vorannahmen der empirischen Wissenschaft.»
Das Tibetische Totenbuch
Der Begriff ‘Nahtoderfahrung’ wurde vom US-Amerikanischen Psychiater und Philosophen Raymond Moody(geb. 1944) 1975 eingeführt, ausgehend von Schilderungen, die er als Arzt im Krankenhaus gewonnen hat. «Was für Moody schon damals 1975 sehr interessant war», sagt Herr Schlieter, «ist das Tibetische Totenbuch, ein Konglomerat von Schriften aus dem Tibet des 14. Jahrhunderts. Darin wird allerdings keine Nahtoderfahrung beschrieben, sondern eine spirituelle Anleitung, wie man Sterbende auf ihrem Weg in die nachtodliche Existenz begleitet. Die tibetischen Buddhisten in dieser Zeit gingen nämlich davon aus, dass das Bewusstseinsprinzip in ein Zwischenreich kommt. Interessant aber ist, dass da diese spirituellen Begleiter entsprechend diesem Werk dem Bewusstseinsprinzip des Sterbenden sagen sollen: Du wirst jetzt gleich ein strahlendes helles Licht erfahren und du darfst vor diesem Licht keine Angst haben. Es ist wichtig, dass du einsiehst, dass das nur eine Projektion ist deines eigenen Geistes, und du musst Mut haben, auf dieses strahlende gleissende Licht zuzugehen.» Das Tibetische Totenbuch wurde 1927 zum ersten Mal in eine westliche Sprache übersetzt und sogleich als Bestseller verkauft. «Seitdem dieser Text bekannt geworden ist haben sich viele Menschen damit befasst, und es kann nicht verwundern, dass sie dann ihre eigenen Nahtoderfahrungen nicht nur entsprechend dieses Textes beschrieben haben, sondern vielleicht sogar auf diese Weise gemacht haben.»
Nahtoderfahrungen und Religion: Ein Zusammenspiel?
Beeinflussen sich Religion und Nahtoderfahrungen gegenseitig? Laut Herrn Schlieter kann beides beobachtet werden. Einerseits wird durch den religiösen Hintergrund des Erfahrenden das Gesehene interpretiert. Andererseits kann durch solche religiösen Interpretationen auch Religion selbst beeinflusst werden. Er nennt das Beispiel von Menschen, die berichten, nochmals zurück ins Leben geschickt worden zu sein, um ihre Lebensaufgabe zu erfüllen. Dies beeinflusst beispielsweise Religion insofern, dass folglich davon ausgegangen wird, eine höhere Macht, zum Beispiel Gott, habe für uns einen Plan, eine Aufgabe, die es vor dem Ableben zu erfüllen gilt.
Was passiert bei Nahtoderfahrungen?
Anhand von Versuchen an Ratten konnte festgestellt werden, dass direkt nach dem Herzstillstand eine hochkoordinierte Hirnaktivität einsetzt, ein Zustand, welcher ähnlich bei meditationserfahrenen meditierenden Mönchen beobachtet werden konnte. Herr Schlieter erklärt, dass dieses Phänomen nun auch bei Menschen festgestellt werden konnte, und dass er hierzu eine Theorie hat, die besonders das Auftreten von einem rückwärtslaufenden Lebensfilm erklären könnte. «Das heisst, dass man diesen rückwärtslaufenden oder vorwärtslaufenden Lebensfilm so interpretieren kann, dass das Bewusstsein in dem Augenblick eben nach Wegen sucht, aus dieser Situation eine Deutung zu gewinnen, die konkrete Überlebensoptionen bereitstellt.»Das Bewusstsein reagiert auf diese unbekannte Situation und beginnt in diesem Moment die Erinnerungen nach ähnlichen Erlebnissen zu durchsuchen, in der Hoffnung, eine Situation zu finden, deren Lösung auch auf die aktuelle Situation anwendbar sein könnte. «Ich würde davon ausgehen, dass es das Hauptinteresse von unserem menschlichen Bewusstsein ist, sich in die Zukunft zu versetzen und sich vorzustellen, wie es in Zukunft auch weiter existieren wird. Wenn jetzt aber die Information kommt, es wird keine Zukunft geben, das ist jetzt wirklich das Ende, dann muss das Bewusstsein etwas leisten, nämlich den Zustand seiner eigenen Nicht-Existenz in sich abzubilden, und das kann es nicht. Also wird diese Suche weitergehen und so schnell und so weit wie möglich alles absuchen.» Herr Schlieter betont jedoch, dass dies Spekulationen sind und dass es verschiedene Theorien gibt. Es handelt sich aber bei dieser erhöhten Hirnaktivität um ein sehr erstaunliches Phänomen, welches sicherlich mit Nahtoderfahrungen in Zusammenhang gebracht werden kann und sollte.

Nahtoderfahrung: Ein Lebhafter Traum?
Herr Schlieter vertritt dazu eine Theorie, die Nahtoderfahrungen mit Träumen vergleicht. «Träume haben andere, klarere Narrative. Aber bestimmte Träume wie der Weckreiztraum, ähneln dem ganzen sehr.» Bei Weckreizträumen handelt es sich um Träume, die äussere gegenwärtige Geschehnisse in das Narrativ einbauen, um den Schlafenden so zum Aufwachen zu bewegen. Die Theorie dahinter ist, dass das Bewusstsein beispielsweise ein Geräusch wahrnimmt, das als Gefahr eingestuft wird. So kommt es dazu, dass Geräusche wie das Zuschlagen einer Tür in einen Traum eingebaut werden, wie etwa in Form eines Autounfalls. Der Knall ist koordiniert mit den Geschehnissen im Traum, und der Träumende wacht blitzartig auf. Das Bewusstsein nimmt also eine Gefahr war und weckt den Schlafenden auf, damit dieser entkommen kann. «Deswegen also die höchste Hirnaktivität, um möglichst schnell eine Geschichte zu konzipieren, die einem das Aufwachen geradezu aufnötigt als eine innere Logik des Traumes. Und das Faszinierende wäre, wenn man es so sehen würde, dass ein Weckreiztraum genau so abläuft wie ein rückwärts- oder vorwärtslaufender Lebensfilm. Also so etwas wie ein existenzieller Weckreiz in dem Moment.»
Was kann die Religionswissenschaft damit anfangen?
Wie es scheint, gibt es immer noch viele offene Fragen in Bezug auf Nahtoderfahrungen, denn bis jetzt handelt es sich mehrheitlich nur um theoretische Entwürfe. Es ist deswegen umso wichtiger, dass dieses Phänomen weiter untersucht wird, denn «Nahtoderfahrungen sind ein ausserordentlich reicher Fundus, aus dem Menschen sich ihr Leben deuten. Hinter Nahtoderfahrungen steckt eine grundsätzliche Vorannahme über die Seele und das Bewusstsein, die nicht materiell ist. Es ist wichtig für die Religionswissenschaft, dies als ein Phänomen zeitgenössischer Religiosität zu sehen. Insofern für die Religionswissenschaft finde ich das ein sehr wichtiges Thema, an diesen Veränderungen, die man in den Erzählungen auch ablesen kann, sieht man gespiegelte Veränderungsprozesse in der Gesellschaft. Und dann sieht man eben auch, dass nämlich der Hauptsinn dieser Erzählungen ein sehr einfacher ist: es gibt den Glauben an ein unsterbliches Bewusstsein, das die menschliche Existenz überdauert.»
Nahtoderfahrungen geben also Auskunft über den zeitgenössischen Glauben und aktuelle Überzeugungen der Gesellschaft. Durch Vergleiche von Nahtoderfahrungsberichte über die Zeit hinweg kann man ausserdem analysieren, wie sich diese verändert haben. Das Phänomen Nahtoderfahrung sollte folglich unbedingt weiter erforscht werden.
Literatur:
Schlieter, Jens: What is it like to be Dead? Near-death Experiences, Christianity, and the Occult, New York 2018.
Schlieter, Jens: Death-x-Pulse. A Hermeneutics for the ‘Panoramic Life Review’ in Near-Death Experiences, in: Blamberger, Günter und Kakar, Sudhir (Hg.): Imaginations of Death and the Beyond in India and Europe, Singapur 2018, S. 145–169.
Schlieter, Jens: Nahtoderfahrungen in religionswissenschaftlicher Perspektive, in: Losch, Andreas und Vogelsang, Frank (Hg.): Die Vermessung der Welt und die Frage nach Gott. Theologie und Naturwissenschaft im Dialog II. Bonn 2018, S. 158–174.
Schlieter, Jens: Total Recall. The ‘Panoramic Life Review’ Near Death as Proof of the Soul’s Timeless Self-Presence in Western Esotericism of the Nineteenth Century, in: Pokorny, Lukas und Winter, Franz (Hg.): The Occult Nineteenth Century. Roots, Developments, and Impact on the Modern World, Basingstoke 2021, S. 113–138.
Schlieter, Jens: Nahtoderfahrungen – Near-Death Experiences. Eine Begriffsgeschichte im Kontext religiöser Metakulturen der Moderne, in: Gripentrog, Stephanie; Popkes, Enno E. und Kugele, Jens (Hg.): Nahtoderfahrungen, Greifswald 2021.
Autorin:
Anja Lang studiert Linguistik und Archäologie an der Universität Bern.