Ein Gespräch mit Andrea Suter, Universität Zürich 5. Mai 2022, Zürich
Andrea Suter hat Religionswissenschaft und Französische Literatur im Bachelor und Master studiert und schreibt momentan ihre Dissertation an der Universität Zürich zum Thema «Rap und Religion».
Rapmusik ist populär- aber auch umstritten. Sie steht immer wieder in der Kritik, weil manche Künstler:innen auch Texte mit homophoben, sexistischen oder ableistischen Inhalten veröffentlichen. Um Kontroversen geht es auch in der Dissertation von Andrea Suter: Sie forscht zu «Rap und Religion». Wir trafen uns zum Gespräch und gingen unter anderem den Fragen nach, was Rap mit Religion zu tun hat und wie sich die Diskussion über Rapper:innen durch die sozialen Medien verändert hat.
Zentral für ihr Forschungsprojekt ist der Künstler Médine (geb. 1983): ein französischer Rapper mit algerischen Wurzeln und praktizierender Muslim. Für eine erste Einstimmung ins Thema empfehle ich aus seinem aktuellen Album das Musikvideo Médine France:
Das Interview wurde mündlich geführt und für die Verschriftlichung leicht editiert
Andrea, du schreibst deine Dissertation über Rapmusik. Wie bist du zu dem Thema gekommen?
Mein Interesse hat sich schon während meiner Gymnasiumszeit etabliert, damals fand mein erster Kontakt mit dem französischen Rap statt. Das war gleichzeitig bereits im Kontext des Islams oder des «Muslimisch-seins im Rap», so waren die beiden Themen für mich von Beginn an gemeinsam angelegt. Auch im Literaturstudium während meiner Bachelorzeit habe ich mit Raptexten gearbeitet und später meine Bachelorarbeit in Religionswissenschaft dazu geschrieben. Das Thema hat mich nie ganz losgelassen und nun während meiner Dissertation, bei der ich doch sehr frei ein Interessengebiet bearbeiten kann, wollte ich dem Thema umfassender, aber auch spezifischer nachgehen.
Dein Forschungsprojekt handelt auch um den Musiker Médine. Er ist sehr erfolgreich, wird aber in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Könntest du uns den Künstler kurz vorstellen?
Médine ist heute sehr erfolgreich, aber noch nicht sehr lange – ironischerweise erst seit den Kontroversen um seine Person. Er kommt aus Le Havre, einer Hafenstadt in der Normandie. Sein erstes Soloalbum ist im Jahr 2004 entstanden, zuvor hatte er sich aber bereits an verschiedenen Rap-Kollektiven beteiligt. Zu dieser Zeit war Rap in Frankreich noch eine Angelegenheit von Paris und Marseille. Und in Le Havre entstand nun diese Gruppe von Schulfreunden, die Rap produzierten und ein Label namens Din Records gründeten.

Von Beginn an war die Gruppe stark mit einem «Selfmade-Element» verknüpft. Dieses Element ist sehr zentral für die französische Rapszene, weil sich Musiker:innen dadurch eine gewisse Authentizität schaffen, im Sinne von: «Wir kämpfen uns in die Szene und bringen Le Havre auf die Landkarte des Raps!» Das nenne ich Protestidentität und diese widerspiegelt sich auch in ihren Texten, die sehr soziopolitisch gefärbt sind.
Und worin besteht die Kontroverse um Médine?
Die Kontroverse um Médine begann 2018 mit einem Tweet von Damien Rieu (geb. 1989). Er war ein Mitglied der jungen Abspaltung der Identitären Bewegung in Frankreich, also der rechtsextremen Génération Identitaire, die mittlerweile zwangsaufgelöst wurde. Rieu hielt es für eine unhaltbare Situation, dass der «islamistische» Rapper Médine im Bataclan auftreten wird, einem Konzertsaal in Paris. Gleichzeitig forderte er die Leser:innen dazu auf, sich gegen die Auftritte zu mobilisieren, bei den Gemeinden anzurufen und sich vor dem Konzertsaal zu versammeln. Der Hintergrund war, dass drei Jahre zuvor in Paris schwere Attentate verübt wurden, unteranderem auch im Bataclan. Sie forderten viele Todesopfer und versetzen Paris in den Notstand. Diese Anschläge, zu denen sich der Islamische Staat bekannt hatte, waren zu dieser Zeit noch sehr präsent und der Tweet hat hohe Wellen geschlagen. Médines geplante Auftritte wurden in den Medien, in der Politik und auch in der Rap-Szene diskutiert.
Diesen Fall untersuche ich. Ich versuche zu erklären, warum zu dieser Zeit auf diese Art und Weise darüber gesprochen wurde und warum der Fall so und nicht anders ausgegangen ist: Médine hat seine Auftritte in einen anderen Konzertsaal verschoben, der dreimal grösser ist.

Dieser Tweet von Damien Rieu ist vielleicht ein Beispiel dafür, dass Debatten zunehmend nicht mehr im Fernsehen oder in Zeitungen ausgetragen werden, sondern in den sozialen Medien. Hat sich dadurch auch der Diskurs um den Islam verändert?
Ich kann das nur in Bezug auf Rap und Islam beurteilen. Früher waren Rapper:innen darauf angewiesen, grosse Fernsehshows zu besuchen, um ihren Namen bekannter zu machen. Aus historischen Gründen wurden sie oft auch als Repräsentant:innen des Islams betrachtet und nach ihrer Meinung zum Kopftuch oder zu den Banlieues-Aufständen befragt. Dieser Umstand hat die Rap-Szene immer wieder irritiert. Im Fall Médine hat sich nun aber gezeigt, dass Rapper:innen nicht mehr auf das Fernsehen angewiesen sind. Sie unterhalten in den Sozialen Medien ihre eigenen Kanäle und können dadurch sowohl die Inhalte als auch das Framing selbst bestimmen. Insofern hat sich bestimmt etwas im Narrativ und der Perspektive der Akteur:innen verschoben: «Im Fernsehen habt ihr die Macht, aber in den sozialen Medien haben wir die Macht!»
Ist die Politisierung des Raps, also die Thematisierung von Rap in Politik und Medien, ein eher französisches Phänomen?
Ein typisch französisches Phänomen! Bereits mit dem Eintritt des Raps in die mediale Sichtbarkeit wurde er verknüpft mit Banlieue-Problemen, sozialen Unruhen, mit Integrations- und Migrationsdebatten. Der Höhepunkt wurde im Jahr 2005 während den Banlieue-Unruhen erreicht, bei der die Repräsentationsfunktion sehr deutlich wurde: Die Rapper:innen wurden zum einen als Mitursache für die Unruhen benannt, zum anderen wie Expert:innen nach Ursachen und möglichen Lösungen befragt.
Diese Repräsentationsfunktion ist in der Schweiz weit weniger bekannt: Erstens ist die Rap-Szene viel kleiner. Zweitens ist die Situation etwas anders. Die Künstler:innen wollen sich authentisch gegen soziale Missstände wehren, was sie engagierten Rap nennen. Dazu brauchen sie eine Fläche, an der sie sich reiben. In der Schweiz sind diese Flächen geringer: Fragen der nationalen Identität, der Kolonialvergangenheit oder der öffentlichen Sichtbarkeit von Religion sind weniger ausgeprägt als in Frankreich. Auch wenn es in der Schweiz selbstverständlich ebenfalls soziale Missstände gibt, über die man sprechen soll und muss, sind diese vermutlich etwas anders ausgeprägt.
Du hast für deine Dissertation um die 3000 Kommentare aus sozialen Netzwerken, 10 Stunden Interviews und die Diskographie Médines analysiert. Könntest du uns etwas genauer erklären, wie du dabei vorgegangen bist?
Ich arbeite in Anlehnung an ethnografische Methoden und beschreibe mein Vorgehen gerne als fokussierte Webnografie. Ich gehe ins Feld und beobachte. Web, weil ein grosser Teil davon online stattfindet: Rap ist ein Ort von Konzerten, aber auch von Blogs, von Webseiten und Kanälen. Fokussiert meint die Aushandlung in den sozialen Medien. Dabei fokussiere ich mich weniger auf die Aussagen der Rapper:innen oder Politiker:innen. Mich interessieren die Kommentare darunter, die Dialoge oder Wortgefechte zwischen den Leser:innen. Diese sind bisher noch sehr unerforscht. Zusätzlich habe ich mit Akteur:innen des Felds gesprochen und die Texte von Médine sind natürlich ebenfalls wichtig.
Ich kann mir vorstellen, dass die Diskussionen in den sozialen Netzwerken zwischen sich politisch links und rechts verordnenden Leser:innen stattfinden?
Davon bin ich ebenfalls ausgegangen, auch weil es in Frankreich bei der Musik eine Art «Links-Rechts-Geschmackskorrelation» gibt. Oft wird zum Beispiel argumentiert, dass Rap ein eher linkes Ding sei. Letztlich scheint dem aber nicht so zu sein: Die Kommentarschreiber:innen bezeichnen oder beleidigen sich zwar gegenseitig als «links» oder «rechts», aber weder die Pro-Médine-Seite noch die -Contra-Seite referieren auf politische Orientierungen, wenn sie ihre Argumente vorbringen. Beide Seiten haben hingegen explizit gemacht, das gesamte politische Schachbrett abzulehnen – hier haben die beiden Seiten paradoxerweise eine politische Gemeinsamkeit.
Wo siehst du in diesem Bereich weiteres Forschungspotenzial für die Religionswissenschaft?
Häufig werden in der Rapforschung emische Perspektiven, also Innenperspektiven, nacherzählt ohne eindringlicher zu erklären, warum diese entstanden sind. Oft wird die Protestidentität in der Literatur als Rebellion der Rapper:innen gegen die französische Politik dargestellt: Sie rebellieren, weil sie Migrant:innen oder Muslim:innen seien oder einen Kolonialhintergrund haben. Ich versuche aber einen Schritt weiterzugehen und sage, dass dieses Protestidentität an sich schon ein sehr französisches Produkt und ein typisches Segment der französischen Kunst ist. Im konkreten Kontext von Rap und Nationalidentitätsdiskursen ist das Muslimisch-Sein dabei der Marker des Protests.
Eine zweite mögliche Forschungsentwicklung sehe ich allgemein im Thema Religion und Musik. Musik ist in der Religionswissenschaft ein noch nicht sehr etabliertes Forschungsfeld. Sie kann aber durchaus Zugehörigkeiten und Grenzen ausdrücken und es gibt es eine Vielzahl an Fragen: der Umgang mit Musik, wo und wie wird sie betrieben, Texte, Rhythmen und andere musikalische Elemente. Da liegt ein riesiges Feld brach, das wir noch zu erforschen haben.
Weiterführende Links:
Mehr zu Andrea Suter: https://www.religionswissenschaft.uzh.ch/de/seminar/mitarbeitende/alphabetisch/suter.html
Islam der Selbstverständlichkeit: Rap und Religion mit Andrea Suter. Ein Podcast von «Erleuchtung garantiert – Wissenschaftliche Spotlights auf Religion und Spiritualität»
https://erleuchtung-garantiert.podigee.io/17-neue-episode
Autorin:
Melissa Solothurnmann hat den Bachelor in Theologie an der Universität Luzern abgeschlossen und studiert nun im Master Religion in globaler Gegenwart an der Universität Bern.