Religionswissenschaft und Posthumanismus Teil 1: Posthumanismus

Ein Gespräch mit Prof. Oliver Krüger, Universität Fribourg 
April 2023, Fribourg

Professor Oliver Krüger ist Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Universität Freiburg. Der ausgebildete Soziologe beschäftigt sich seit seiner Doktorarbeit vor zwei Jahrzehnten mit dem Posthumanismus. Sein neuestes Buch, eine vollständig aktualisierte Ideengeschichte des Post- und Transhumanismus, Virtualität und Unsterblichkeit, erschien 2019. Ein besonderer Schwerpunkt in diesem Buch liegt darauf, wie sich Post- und Transhumanistinnen und Transhumanisten eine Zukunft vorstellen, in der die Menschheit eine virtuelle Unsterblichkeit erreicht hat – und woher diese Hoffnungen kommen.

Für viele scheint der Tod unausweichlich. Für die Anhänger*innen vieler Religionen gibt es auf die eine oder andere Weise die Idee eines Lebens nach dem Tod. Viele Post- und Transhumanistinnen und Transhumanisten hoffen jedoch auf eine andere Art von Unsterblichkeit: eine, die im digitalen Hochladen des Geistes zu finden ist. Was bedeuten Leben, Tod und Leben nach dem Tod im Posthumanismus? Genau dieser Frage geht dieses Gespräch mit Professor Krüger nach. 

Das Interview wurde mündlich geführt und für die Verschriftlichung leicht editiert

Können Sie uns zu Beginn für Laien verständlich erklären, was Sie unter Posthumanismus verstehen?

Der Begriff hat sich in den letzten 30 Jahren entwickelt. Man muss unterscheiden zwischen dem kritischen Posthumanismus und dem technologischen Posthumanismus, über den letzteren forsche ich vor allem. Der technologische Posthumanismus ist eine sehr fortschrittseuphorische Philosophie, die die Menschheit bzw. den biologischen Menschen überwinden will. Durch was überwinden? Durch künstliche Intelligenz und Roboter, die aus eben dieser Sicht die nächste Stufe der Evolution sind. Davon zu unterscheiden ist der kritische Posthumanismus als Überbegriff philosophischer Ansätze, die den Humanismus überwinden wollen. Den Humanismus überwinden – warum? Weil diese grosse philosophische Bewegung, die die westliche Philosophie seit 500 Jahren prägt und dominiert, sowohl eurozentrisch wie auch androzentrisch ist.[1] Dieser kritische Posthumanismus speist sich vor allem aus der poststrukturalistischen Literaturtheorie, aus der Feminismus-Theorie und man will eben diese auf den weissen europäischen Mann zentrierte Philosophie überwenden. Der kritische und der technologische Posthumanismus sind zwei sehr verschiedene Dinge. Die Ersteren kritisieren die Ziele, die die Letzteren ins Extrem treiben wollen.

Wir bleiben beim technologischen Posthumanismus: Was heisst es denn, in diesem Verständnis, den biologischen Tod zu überschreiten?

Die Idee ist ganz einfach. In den 1950er Jahren entstand in den Science-Fiction Geschichten zum ersten Mal die Idee, dass der Mensch unsterblich werden könnte, indem er in einen Computer eingescannt wird. Stanisłav Lem, Arthur C. Clarke und die beiden Strugazki-Brüder entwickelten zeitgleich Ende der 1950er Jahre die Idee, dass man das Gehirn eines Menschen komplett einscannen und dieses als Informationsmuster im Speicher eines Computers unendlich weiter fortleben könne. Das ist Science-Fiction und reiht sich in eine 200-jährige Tradition ein, in der es schon immer Spekulationen darüber gab, technisch einen unsterblichen Menschen zu schaffen.

Neu erscheint nun in den späten 1970er Jahren ein Robotiker aus Amerika, Hans Moravec, der jetzt nicht mehr Science-Fiction Geschichten schreibt, sondern normativ setzt: “Das ist die Zukunft, das müssen wir erreichen”. Im Jahr 1986 veröffentlichte er sein Buch «Mind Children. The Future of Robot and Human Intelligence» also “Geisteskinder”, in dem er sehr detailliert beschreibt, wie er sich das genau vorstellt, wie das Gehirn Scheibe für Scheibe, Molekül für Molekül gescannt wird und dann im Computer simuliert wird. Sein zweites Buch von 1999 verbindet er dann mit einer Geschichtsphilosophie, denn man muss sich ja fragen: Warum ist das Ganze wichtig, warum müssen wir dort hinkommen? Er entwickelt daraus einen futurologischen Imperativ, d.h. die Zukunft muss genauso aussehen, alles muss genauso geschehen. Warum? Weil er Menschen und Computer vergleicht: Menschen sind aus seiner Sicht nämlich auch nichts anderes als Rechenmaschinen, Informationsverarbeitungsmaschinen. Und wenn man erstmal soweit ist, den Menschen quasi als Computer zu definieren, schneidet der Mensch natürlich schlechter ab. Daraus folgt sein Hauptargument, dass der Mensch durch leistungsstärkere Rechenmaschinen ersetzt werden müsse. Damit diese “Ablösung der Evolution” für menschliche Ohren nicht so absurd klingt, ist diese Idee verbunden mit der Hoffnung, dass man selber auch unsterblich werden könne. Jeder wird eingescannt und kann so virtuell weiterleben. Das ist wohl die Grundidee.

Und wie kommen Sie als Religionswissenschaftler dazu, sich besonders für dieses Thema zu interessieren? 

Das war, wie Forschung so ist, durch einige Zufälle gesteuert. Ich habe im Rahmen meiner Magisterarbeit im Feld der Mediensoziologie über Computerspieler geforscht, die ihre Spielfiguren sehr vermenschlicht haben. Damals gab es ein Computerspiel namens «Creatures», in welchem erstmals künstliche Intelligenzen zur Steuerung der Charaktere verwendet wurden. Da gab es kleine Wesen, die sich weiterentwickelten, und es gab tatsächlich Leute, die sich dafür eingesetzt haben, dieses künstliche “Leben” zu schützen. Ich habe mit diesen Personen Interviews geführt und versucht, das Ganze mediensoziologisch zu deuten, was mich an die Schnittstelle der Thematik von Tod und Medien brachte.

In dieser Zeit stiess ich noch auf eine berüchtigte Buchpublikation eines amerikanischen Physikers, Frank J. Tipler,[2] der sich zu einem der Hauptdenker dieses Posthumanismus entwickelte. Das verband sich ganz gut miteinander und so bin ich dann mit dem etwas schrägen Thema in der Religionswissenschaft gelandet. Mein Doktorvater hat immer gesagt, er empfehle dieses Thema überhaupt nicht, damit würde ich ganz sicher arbeitslos werden, in der Religionswissenschaft sässe ich damit zwischen allen Stühlen. Aber im Fach hat sich seither ja auch was getan. In den 1990er Jahren hat sich die Religionswissenschaft noch sehr eng auf bestimmte religiöse Traditionen konzentriert, absolut historisch-philologisch.[3] Man war Experte oder Expertin für den frühen Buddhismus oder für den Manichäismus. Seither entwickelten sich immer stärker Perspektiven, in welchem Verhältnis Religion zu anderen Bereichen in der Gesellschaft steht. Der Bereich Religion und Wissenschaft ist von vielen Forschernwie z.B. Kocku von Stuckrad bearbeitet worden und in diesen Bereich bin ich dann auch eingetreten. Dieser Posthumanismus ist ja irgendetwas zwischen dem, was religiös wahrgenommen wird, also Antworten liefert auf das Todesproblem, und dem, was man eine absolute materialistische, technozentrische Zukunftsidee nennen kann. Und eben diese Verknüpfung der beiden Sphären ist das Spannende.  

Sie haben es schon leicht angesprochen: Wie verändert sich durch den Posthumanismus das Verhältnis des Individuums zum Tod und damit auch das Verhältnis zum biologischen Leben?

Also wenn die Frage darauf abzielt, wie es sich in diesem Gedankengebäude verändert, dann kann ich was dazu sagen. Wenn sie darauf abzielt, wie sich die menschliche Gesellschaft verändert und wie sich das Verständnis des Individuums durch diesen Posthumanismus verändert, das kann ich empirisch nicht beantworten. Aber Sie meinen das Erste und das ist eigentlich eine ganz interessante Geschichte, denn die erste Forscherin, die überhaupt zu dem Thema etwas Sinnvolles publiziert hat, ist die amerikanische Literaturwissenschaftlerin N. Kathrine Hayles. Sie hat 1999 das Buch «How we became posthuman» veröffentlicht. Es mutet hier paradox an, dass wir laut dem Titel bereits posthuman sind, denn “became” ist ja die Vergangenheitsform. Wie sind wir posthuman geworden? Was macht diese Verbform für einen Sinn, wenn wir von einer Zukunftsphilosophie reden? Ihr Argument war: Wir sind schon Posthuman! Warum? Denn zuerst wird der Mensch posthuman definiert, nämlich als Computer, als Rechenmaschine, und erst wenn wir ihn schon posthuman definiert haben, können wir ihn auch tatsächlich ersetzen und sagen, er sei die schlechtere Rechenmaschine. Hayles hat ihre Analysen auf Cyberpunk-Literatur fokussiert und wie sich damit das Menschenbild ändert.[4] Wenn wir nun ganz zum Anfang des Computerzeitalters zurückgegen (in die späten 1940er undfrühen 1950er Jahre), dann sehen wir, wie Wissenschaftler wie wie John von Neumann oder Norbert Wiener eine Theorie der Kybernetik entwickelten. Kybernetik ist ein früher gebräuchlicher Begriff für die Steuerung von Systemen. Und so kam man zu den Grundlagen eines computerbasierten Menschenbildes: dass eigentlich alles, was Leben ausmacht, Information ist und alles, was Dynamik ausmacht, ein Unterschied in Information. Nichts anderes. Das heisst am Ende ist die Hardware, also der Körper, unwichtig. Das, worum es geht, ist die “Software”. Die Software, das Programm, das eigentlich den Menschen ausmacht, muss demnach nicht auf einem fleischlichen, sterblichen, gebrechlichen Körper laufen, sondern auch auf jedem x-beliebigen geeigneten Träger. Soweit die Grundidee. Sie ist natürlich eng verwandt mit dem Behaviorismus, der in dieser Zeit extrem populär war. Gemeinsam ist diesen Ideen, dass man alles kontrollieren und steuern kann.

Verstehen wir das richtig, dass sozusagen der Körper an Wichtigkeit verliert, und die Information, also die Software, an Bedeutung gewinnt, und dass somit das biologische Leben nicht mehr so wichtig ist, weil die Software weiterhin bestehen bleiben kann? 

Genau. Und Sie haben das noch sehr nett formuliert mit «nicht mehr so wichtig», denn für Posthumanisten ist der Körper absolut vernachlässigbar. Der Körper ist nur noch ein Hindernis, ein Totgewicht, welches man irgendwie noch mitschleppen muss, mit all den körperlichen Grenzen und dem, was der Körper mit uns macht, all die körperlichen Begierden und solche Dinge. All das wollen die Posthumanisten überwinden oder kontrollieren.

Welcher Teil des Menschen erfährt dann eigentlich das virtuelle Leben nach dem biologischen Tod? Gibt es da sowas wie eine Seele oder ein erfahrendes Selbst? 

Nein, alle Posthumanisten sind ausnahmslos radikale Materialisten. Sie gehen ein bisschen naiv davon aus, dass die menschliche Persönlichkeit im menschlichen Gehirn vorhanden ist, dass also das restliche körperliche Nervensystem völlig vernachlässigbar ist. Dieses Verständnis entspricht einem Stand der Neurowissenschaften der 1980er Jahre. Wir wissen heute genau, dass das Nervensystem im gesamten Körper extrem wichtig ist für die menschliche Identität, für Stimmungen, aber auch für die geistigen, intellektuellen Leistungen. Und das hängt natürlich mit dieser Tradition des Posthumanismus zusammen, die mit einem Fuss noch im 19. Jahrhundert steht. Genau das versuche ich aufzuarbeiten: Ende des 19. Jahrhunderts kam die Eugenik auf, also die Idee, dass man rassisch oder in sozialen Klassen dafür sorgen muss, dass sich die “Höherwertigen” weiter fortpflanzen dürfen und die anderen nicht, mit den ganzen schlimmen Folgen, die uns ja heute allen bekannt sind. Und im Rahmen dieser Eugenik gab es einige Zeit lang eine Faszination für Gehirne. In der sogenannten Phrenologie hat man Schädel, Gehirnformen und Aussehen analysiert und dann nachweisen wollen, dass kluge Menschen grössere Gehirne haben und weniger kluge kleinere. Jetzt können sie mal raten, wen es vor allem getroffen hat….

 


[1]  Den Mann ins Zentrum des Denkens stellend.
[2] Frank J. Tipler, amerikanischer Professor der mathematischen Physik, schrieb 1994 das Buch “The Physics of Immortality”.
[3] Philologie: Wissenschaft, die sich mit der Erforschung von Texten in einer bestimmten Sprache beschäftigt.
[4] Cyberpunk: dystopische, düstere Form der Science-Fiction, in den 1980ern entstanden.

 

Literatur:

Krüger, Oliver: Virtualität und Unsterblichkeit: Gott, Evolution und die Singularität im Post- und Transhumanismus. Freiburg i.Br. 2019. Open access: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783968216737.pdf

Krüger, Oliver: Virtual Immortality – God, Evolution, and the Singularity in Post- and Transhumanism. Translated by Ali Jones and Paul Knight. Bielefeld, 2021.

Autor:

Das Interview führten Deniz Isik, Leah Willi und Nicola Wolf. Zum Zeitpunkt des Interviews waren alle drei Studierende der Universität Bern mit Interesse an Religionswissenschaft.