Religiöse Ziegen, Recht und Gemeindeordnung

Ein Gespräch mit Dr. Anne Beutter, Universität Luzern 
04. Mai 2022, Luzern

Dr. Anne Beutter ist Religionswissenschaftlerin und Soziologin und arbeitet als Oberassistentin am religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern. In ihrer Dissertation hat sie Wechselwirkungen zwischen «Religion» und «Recht» untersucht. Anhand der Rechtspraxis einer Gemeinde der Presbyterian Church of Ghana untersuchte sie die Funktion von rechtlichen Praktiken – also z.B. Rechtsprechen oder Schlichten in Konflikten – für eine religiösen Gemeinde.

In Luzern traf ich Anne Beutter, um mit ihr über das Thema Religion und Recht zu sprechen. Wir sprachen über die Rechtsprechung der Kirchenältesten der Presbyterian Church of Ghana, welche sie im Rahmen ihrer Dissertation untersucht hat. Sie erklärte, wie die Kirchenältesten mithilfe von rechtlichen Praktiken das Gemeindeleben organisierten und dabei auch gleichzeitig mitbestimmten was Religion war und was nicht. Weiter wurde klar, dass wir stets als Teile verschiedener Gruppen und deren Ordnungen handeln. Zum Schluss resümierte Anne Beutter, dass wir mit den Erkenntnissen ihrer Forschung auch in der Schweiz Konflikte besser verstehen und lösen können. 

Das Interview wurde mündlich geführt und für die Verschriftlichung leicht editiert

Frau Beutter, was hat ein Gerichtssaal mit einer Kirche zu tun?

Im ersten Moment würde man Denken das hat herzlich wenig miteinander zu tun. Aber ich muss sie leider enttäuschen: So einfach ist es nicht, die beiden Orte haben mehr miteinander zu tun, als man vielleicht denken mag. Dies aus verschiedenen Gründen. Zum einen befinden wir uns in beiden Fällen in einem speziellen Raum. Besonders weil darin Handlungen stattfinden, die auf ganz bestimmte Weise ablaufen müssen, damit sie «gültig» sind. Man könnte quasi von «Ritualen» sprechen. Durch die «Rituale» bzw. die «ritualisierten» Handlungen bekommen die Entscheidungen oder Dinge, die in dem Raum gesagt werden, eine spezielle Bedeutung. Sie werden besonders wichtig oder sogar rechtskräftig und verändern für die beteiligten Menschen die Wirklichkeit. Sowohl im Gerichtssaal als auch in der Kirche werden also kurz gesagt in einem speziellen Raum, spezielle, auf eine ganz bestimmte Weise ablaufende Handlungen gemacht und Dinge gesagt oder entschieden, die dann sehr weitreichend gültig sind. Die «ritualisierten» Handlungen, die ich in meiner Forschung rechtliche Praktiken nenne, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Zum anderen kann man sich als Anschlussfrage stellen: warum Denken wir bei Recht immer nur an staatliches Recht? Das ist besonders in Europa so, aber nicht auf der ganzen Welt und auch in Europa war das nicht immer so. Der Nationalstaat hat es quasi geschafft die alleinige Macht über das Recht zu erlangen.

Und daher denkt man also beim Wort Recht zuallererst an den Gerichtssaal. Sie haben aber gezeigt, dass es nicht immer ganz so eindeutig ist. Es gibt immer noch verschiedene «Rechtssysteme» die immer noch nebeneinander wirken. Wie haben sie das herausgefunden? Wie funktioniert das genau?

Zuerst muss ich dazu vielleicht sagen, dass ich in einer Umgebung geforscht habe, die klassisch als «rechtlich-plural» gilt. Sprich eine Umgebung die verschiede solcher Rechtssysteme kennt. Im Ghana der 1950er Jahre bestanden staatliches Recht, also das ehemalige Kolonialrecht, traditionell-lokales Recht und muslimisches Recht nebeneinander. Ich konnte zeigen, dass dazu auch noch ein kirchlich-christliches Recht kam.  In den Kirchenarchiven in denen ich gesucht habe, fand ich Hinweise darauf, dass die Kirchgemeinderäte sehr ähnliche Dinge gemacht haben wie die Lokalen Autoritäten, sogenannte «Chiefs» und die Kolonialherren in ihren Gerichtshöfen. Man könnte also sagen, dass ich ein Mini-Rechtsgremium erforscht habe.

Wie haben denn in Ghana die Kirchenältesten Recht gesprochen? Wie griffen da Religion und Recht ineinander? 

Die Ältestenräte waren verantwortlich für alles was in den Gemeinden läuft und somit auch für die Gestaltung des Lebenswandels der Gemeindemitglieder. Sie bestimmten was ein Christ zu tun hatte und was nicht und dazu gehörte alles Mögliche von Familienrecht und Landrecht bis zur Ruhestörung. Verstösse gegen ihre Vorgaben bestraften sie. Schlussendlich waren es also rechtliche Praktiken, mit denen die Ältesten gearbeitet haben. 

Sie kümmerten sich aber nicht um alle Verhaltensweisen. Mit der Rechtsprechung – oder den rechtlichen Praktiken – markierten sie Verhaltensweisen als christlich oder nicht-christlich. Was christliches Verhalten war, billigten sie oder bestraften es – je nachdem ob es sich um einen Verstoss handelte oder nicht – anderes Verhalten überliessen sie anderen Rechtsbereichen. Oder aber sie übernahmen lokale Rechtspraktiken in ihr eigenes Repertoire um die Frage zu lösen.

Gibt es da Beispiele?

In den Ältestenratsprotokollen der Gemeinde, die ich gelesen und untersucht habe gibt es einen Fall, der das sehr schön zeigt. Es ging dabei um zwei Fälle von Ehebruch. Ein gängiges Mittel im lokalen Recht, um Ehebruch beizulegen war in Ghana das Schlachten eines Schafes, als Wiedergutmachung. Im einen Fall ist dies passiert und der Ältestenrat der Kirche nahm dies ohne grosses Erstaunen zur Kenntnis, fand es sogar gut. Das Schaf wurde als Mittel des traditionellen Rechts akzeptiert. Im zweiten Fall war der Mann tot und die Witwe wollte wieder heiraten. Das Schaf wurde geschlachtet als Wiedergutmachung für den «Geist» des toten Mannes. Da war das für die Ältesten ein Problem.

Warum, es wurde ja in beiden Fällen ein und dasselbe gemacht? 

Für den Rat war das ein religiöser Akt. Er war der Meinung, dass das ein nicht-christliches «heidnisches» Ritual sei, weil es für den «Geist» des Toten war und damit in ihren Verantwortungsbereich fiele, die christlichen Sitten zu wahren. Das eine Schaf schlachten war für die Kirche also eine rechtliche Praxis und das andere eine religiöse Praxis. Sie hat dem einen den Aufkleber Religion und dem anderen den Aufkleber Recht verliehen, obwohl aus der Perspektive des lokalen Rechts von der Form und der Funktion her ein und dasselbe gemacht wurde. Diese verschiedenen Perspektiven ein und dieselbe Handlung anzuschauen, nenne ich in meiner Forschung «normative Ordnungen.»

Konflikte sind also fast vorprogrammiert, wenn verschiedene solche Ordnungen aufeinanderprallen? Kann man das auch auf die Schweiz übertragen? Hier gibt es ja eigentlich nicht verschiedene Rechtssysteme. 

Es gibt in der Schweiz zwar nicht verschiedene Rechtssysteme. Was es aber sehr wohl gibt sind Verschiedene solche normative Ordnungen. Verschiedene Gruppen beurteilen auf verschiedene Weise was richtig oder falsch ist oder was Religion ist und was nicht. Alle sind Teil einer Familie, einer Kultur, einer Religion oder auch keiner Religion etc. und wir alle sind auch dem staatlichen Recht unterworfen, also Teil verschiedener solcher Gruppen und Deutungsrahmen. So gesagt trifft das für jede Situation und jeden einzelnen zu. Jeder Mensch muss diese Abwägung laufend machen. Je nachdem aus welcher Ordnung wir gerade denken, reagieren wir auf Situationen ganz unterschiedlich. Und die Perspektive meiner Forschung zeigt, dass Recht – meine ich staatliches Recht – so eingebunden ist.

Können sie vielleicht ein Beispiel machen?

Ein vielleicht bereits ein bisschen älteres Beispiel ist die Handschlagdebatte aus Therwil, wo zwei muslimische Brüder angaben, aus religiösen Gründen der Lehrerin nicht die Hand schütteln zu wollen. Das ist ein Beispiel, an dem man das ganz gut zeigen kann. Erstens geht es natürlich darum, was ist ein pädagogisch sinnvoller Umgang mit dieser Situation? Zweitens war die Frage die sich da stellte, ob sie den Handschlag verweigern durften, weil das unter die Religionsfreiheit fällt. Oder ist es kulturell und somit nicht von der Religionsfreiheit gedeckt, sodass die Schule den Handschlag einfordern kann, wenn sie das für sinnvoll hält. Als die Öffentlichkeit darauf aufmerksam wurde, stand ganz schnell die Forderung im Raum, dass das staatliche Recht darüber entscheiden sollte ob hier Religionsfreiheit greift oder nicht. Anders gesagt: ob es sich dabei um Religion handelt oder nicht. Wir sind also wieder beim Thema Schaf. Die Gerichte wollten sich diesen Schuh jedoch nicht anziehen und sagten, der Konflikt sei auf einer anderen Ebene normativer Ordnung zu lösen – jener der Schulordnung und pädagogischer Erwägungen. Quasi ausserhalb des Rechtsapparats des Staates. 

Wie kann ihre Forschung hier auch helfen, die Schweiz als Land mit Leuten aus aller Welt zu verstehen und mit dieser Vielfalt besser umzugehen?

Was vielleicht wirklich hilft, mit dieser Vielfalt besser umzugehen ist die Perspektive der Leute und ihrer verschiedenen Referenzrahmen, die sie immer wieder untereinander Abwägen müssen, je nach Situation. Dass jede Situation immer unterschiedlich gelesen werden kann, vieldeutig sein kann. Ich konnte in meiner Arbeit zeigen, dass das ein Prozess ist, der laufend stattfindet der auch jedes Mal mitbestimmt was jetzt z.B. in meinem ghanaischen Fall als «christlich» galt und was nicht. Die rechtlichen Praktiken, dienen dann in «Streitfällen» dazu solche Sachen festzuschreiben, also eine der möglichen Deutungen durchzusetzen, um Klarheit zu schaffen, was denn nun in diesem konkreten Fall z.B. Religion «ist» und was nicht. Man sieht, warum gewisse Situationen so vertrackt sind, weil z.B. Schule, Familie, Religion, Staat, Wissenschaft und Gesellschaft alle unterschiedliche Vorstellung davon haben, was denn jetzt das Richtige ist und die Leute müssen sich entscheiden, was sie tun. So kann man schlussendlich die Leute, warum sie handeln wie sie handeln, besser verstehen und auch, warum gewisse Personengruppen Anstoss an gewissen Handlungen finden. Man kann solche Situationen «auseinandernehmen» und so zum Brückenbauer werden. 

Literatur:

Beutter, Anne: Religion, Recht und Zugehörigkeit. Rechtspraktiken einer westafrikanischen Kirche und die Dynamik normativer Ordnungen. Göttingen 2022.

Beutter, Anne: Church Discipline Chronicled. A New Source for Basel Mission Historiography, in: History in Africa 42, 2015, S. 109–38.

Beutter, Anne: Was auf dem andern Blatt steht. Die Chronik von Nkoransa (1911-1920) als Dokument lokaler Gemeinde-Praxis der Basler Mission und der Perspektive ihrer afrikanischen Mitarbeiter, in: Castryck, Geert; Strickrodt Silke und Werthmann, Katja (Hg.): Sources and Methods for African History and Culture. Essays in Honour of Adam Jones, Leipzig 2016, S. 221–37.

Autor:

Leonardo Siviglia besitzt einen Bachelor of Arts in Geschichte und Religionswissenschaft, welchen er 2021 erhielt. Momentan ist er dabei sein Masterstudium in Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit und Religionswissenschaft abzuschliessen. Ausserdem war er während 3 Jahren Hilfsassistent am Lehrstuhl für Neuere Geschichte und arbeitet neben dem Studium als Journalist bei Radio SRF.