Ein Gespräch mit Dr. Piotr Sobkowiak, Universität Bern April 2023, Bern
Dr. Piotr Sobkowiak ist Postdoktorand am Institut für Religionswissenschaft der Universität Bern. Als ausgebildeter Philologe verbindet sein Interesse historische, philologische und religionswissenschaftliche Methoden, um Phänomene wie „Schamanismus“ besser zu verstehen. In seinem Buch The Religion of the Shamans geht es darum, wie das mongolische und südsibirische Konzept des Schamanismus durch ein Zusammenspiel von Einheimischen, Entdeckern, Politikern und anderen erfunden wurde.
Schamanismus kann ein verwirrendes Konzept sein. Für einige bezieht es sich nur auf religiöse Akteurinnen und Akteure, die in Ländern wie Sibirien und der Mongolei vorkommen. Für andere bezeichnet es eine spirituelle Weltanschauung, die von jedem praktiziert werden kann, der sich für die Natur interessiert. Daher ist jedes Thema im Zusammenhang mit Schamanismus schwer zu verstehen. Dieses Interview mit Dr. Sobkowiak wurde geführt, um Klarheit darüber zu gewinnen, wie Schamanismus betrachtet werden kann und was er mit den Themen Leben und Tod zu tun hat.
Das Interview wurde mündlich geführt und für die Verschriftlichung leicht editiert
Was versteht man in der Religionswissenschaft unter Schamanismus?
Der Begriff “Religion” ist schon ein schwer definierbarer Begriff und bei “Schamanismus” ist das nicht anders. Man kann den Schamanismus jedoch aus zwei Blickwinkeln betrachten; einerseits aus der historischen Forschung, andererseits aus der Gegenwart, welche sich an der Ethnografie orientiert. Somit wird der Begriff Schamanismus in der Religionswissenschaft nicht direkt definiert, jedoch kann man manche Elemente herausfiltern und dann beispielsweise Aussagen machen wie, dass es ohne Schamanen und Schamaninnen keinen Schamanismus gibt.
Ist die Unterscheidung zwischen lokalem Schamanismus und Neo-Schamanismus ein aktueller Trend in der Schamanismus-Forschung?
Diese Unterscheidung zwischen Neoschamanismus und lokalem Schamanismus ist eine eher späte Entwicklung. Der Begriff Neoschamanismus dient dazu, neue, globale Praktiken, wie z.B. schamanische Angebote im Internet, zu beschreiben und vom lokalen Schamanismus zu unterscheiden. Neoschamanismus ist hierbei keine Erweiterung des bisherigen Schamanismus, sondern etwas ganz Neues, das stark vom Westen beeinflusst wurde. Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass der globalisierte Neoschamanismus auch eine Rückwirkung auf den lokalen Schamanismus hat. Die beiden Formen existieren nicht abgekapselt voneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig.
Womit beschäftigen sich Schamanen und Schamaninnen?
Schamanen und Schamaninnen beschäftigen sich mit der Natur und Geistern, wobei man versucht, durch Praktiken mit den Ahnen und Ahninnen eine Verbindung aufzubauen. Im Neoschamanismus im Westen hat der Schamanismus einen psychologischen Zweck, so wird sich mit Geistern und Energien auseinandergesetzt, um gesundheitliche Beschwerden zu lösen. Auch ist es im Westen möglich, durch Übungen selbst Schamane oder Schamanin zu werden. Im lokalen Kontext ermöglichen Schamanen und Schamaninnen Probleme zu lösen, die eng in Verbindung mit der Genealogie (Ahnenforschung) stehen. Sie ermöglichen Beziehungen zu verstorbenen Personen, die immer noch präsent sind. Somit haben wir einerseits die psychologischen Heilpraktiken im Neoschamanismus und andererseits im lokalen Kontext die Probleme des Lebens, die die Schamanen und Schamaninnen zu lösen versuchen. Die Probleme werden durch wütende Ahnen und Ahninnen ausgelöst, die von den Lebenden gereizt wurden und so spielen auch Opfergaben, zum Besänftigen der Ahnen und Ahninnen, eine wichtige Rolle.
Wie werden Schamanen und Schamaninnen im lokalen Kontext ausgewählt?
Im lokalen Kontext handelt es sich um eine gesellschaftliche Anerkennung von Schamanen und Schamaninnen. Es gibt ein Initiationsritual, für welches gewisse Personen auf zwei Arten ausgewählt werden. Einerseits durch die «schamanische Krankheit»; diese Personen haben entweder psychische oder körperliche Beschwerden, wie zum Beispiel eine Depression oder sogar beides. Da die Gesellschaft diese Beschwerden als Zeichen so interpretiert, dass die Geister diese Personen ausgewählt haben, müssen diese Personen Schamanen oder Schamaninnen werden. Persönlich finde ich dieses Modell problematisch, weil es eigentlich dem westlich orientierten psychologischen Muster entspricht, dass eine leidende Person zur Heilenden wird. Die zweite Art der Auswahl bezieht sich mehr auf die lokalen Genealogien. Somit haben die heutigen Schamanen und Schamaninnen, auch schon Schamanen und Schamaninnen in ihren Familien verzeichnet. Auch eine Kombination der beiden Auswahl Arten ist möglich.
Offenbar ist die Arbeit mit Ahnen und Ahninnen ein sehr wichtiger Bestandteil im Schamanismus. Doch wie sieht es aus mit dem Tod und dem Jenseits aus; sind diese Themen Bestandteil der Arbeit der Schamanen und Schamaninnen?
Wenn man sich schamanische Praktiken in der Mongolei oder Südsibirien anschaut, dann merkt man, dass sie an sehr alltäglichen Bereichen orientiert sind, wie z.B. Gesundheit und Hilfe bei schweren Entscheidungen. Finale Aspekte, wie der Tod und was danach kommt, sind eine Seltenheit in der Arbeit der Schamanen und Schamaninnen. Das Diesseits spielt eine viel wichtigere Rolle als das Jenseits.
Bevor wir die Thematik des Jenseits vertiefen, wie sieht es mit dem Diesseits aus? Spielen Verstorbene im Diesseits eine wichtige Rolle? Kann man beispielsweise Hilfe von ihnen erwarten?
Ja, dieser Kontakt ist sehr wichtig. Denn dieser Kontakt ermöglichte es, Lösungen zu finden. Man kann vermuten, dass diese Ahnen und Ahninnen nicht völlig verschwinden. Sie weihen noch unter uns, sind präsent in dieser Realität, die sich neben uns befindet. Es war schon immer sehr wichtig, dass man diese Kontakte pflegt; dass man diese lokale Genealogie im Ganzen pflegt. Es geht also nicht nur um diejenigen, die lebendig sind, sondern auch um die, die verstorben sind und dennoch unsere Welt beeinflussen können. Zum Beispiel wenn wir etwas falsch machen, oder ein Ereignis auf uns zukommt, mit dem wir nicht umzugehen wissen, dann müssen wir Lösungen finden und diese Lösungen kommen durch Schamanen und Schamaninnen, die solche hilfreichen Kontakte zu Ahnen und Ahninnen pflegen.
In manchen Texten wird von einer Seele gesprochen, welche nach oben wandern muss, nachdem man gestorben ist und dass die Schamanen und Schamaninnen wie Wegleiter*innen den Weg nach oben zeigen. Wie hast du das in deiner Forschung erlebt?
Diese Seelenreise nach unten oder nach oben, das ist einer der festen Bestandteile des Neoschamanismus. Es wird geglaubt, dass das Sterben in einer bestimmten Weise, wie ein plötzlicher Tod oder durch Gewalt, böse Geister erscheinen lassen kann. Und der Schamane oder die Schamanin hilft dabei, mit diesen Geistern umzugehen. Aber ich habe in meinen Erfahrungen noch nie davon gehört, dass der Schamane oder die Schamanin die Seele begleitet. Das ist neu dazugekommen. Für mich war der Aspekt einer Parallelwelt mit verschiedenen Geistern, die bestimmte Orte schützen etc. viel wichtiger als diese vertikale Ebene wie im Verhältnis der Erde zu Hölle oder Himmel. Ich spüre da so einen westlichen Nachgeschmack bei dieser vertikalen Ebene.
Ich höre aus deinen Antworten heraus, dass es im lokalen Schamanismus keine Dichotomie gibt, also keine guten oder böse Geister. Ist das so?
Im lokalen Schamanismus gibt es diese Unterscheidung zwischen guten und bösen Geistern, wie auch die Vorstellung von weissem und schwarzem Schamanismus, nicht. Diese Unterscheidung kam erst spät und ist eher ein Zeichen vom Einfluss von anderen religiösen Traditionen auf die lokale Tradition der Schamanen und Schamaninnen.
Du hast über die Welt neben uns gesprochen, also die Parallelwelt. Beim Schamanismus bekommt man häufig das Bild von der Tür vermittelt, die geöffnet wird, wenn man mit dem Jenseits in Kontakt tritt. Wie hast du das in der Forschung wahrgenommen, ist dies nur ein stilistisches Mittel?
Ich kann das nicht beantworten. Die Schamanen und Schamaninnen sollen die Fähigkeit haben, dort hinzugehen und zurückzukommen. Aber ich weiss nicht, ob sie durch Türen oder Portale gehen. Wie sie diesen Kontakt aufnehmen, müsst ihr sie selbst fragen. Wenn man jedoch heutzutage lokale Initiationsrituale wie beispielsweise aus Burjatien (autonome Republik in Russland) sieht, dann ist es eigentlich umgekehrt. Da ist es so, dass dieses Jenseits in die Schamanen und Schamaninnen eintritt. Dass die Ahnen und Ahninnen sich im Körper der Schamanen und Schamaninnen manifestieren und durch diese Körper sprechen. Also dass die Schamanen und Schamaninnen dem Jenseits erlauben, hierher zu kommen und nicht andersrum.
Wo gibt es für dich noch Forschungsbedarf im Bereich Schamanismus? Welche Aspekte würdest du vertiefen wollen?
Ich würde sagen aus religionswissenschaftlicher Sicht, was fehlt ist die Frage von Geschichte. Wenn wir an Geschichte denken, dann denken wir oftmals an schriftliche und mündliche Quellen. Wir denken an Texte, an Mythen usw. Dabei ist eben auch der dritte Aspekt von Körper, Genealogie und den dazugehörigen Praktiken wichtig. Ich würde mich von diesen alten Bildern des Schamanismus ablösen. Nicht um diese Aspekte zu vergessen, sondern um wirklich tiefer den lokalen Kontexten zu erforschen.
Literatur:
Sobkowiak, Piotr: The Religion of the Shamans: History, Politics, and the Emergence of Shamanism in Transbaikalia. Leiden, 2023.
Sobkowiak, Piotr: ‘He thinks he is inspired, and he is mad’: Superstition, Fanaticism, and Deceitful Folly in Catherine II’s Comedy The Siberian Shaman. In Aries 2023, pre-print 1–44.
Autor:
Das Interview führten Giulia Ambach, Céline Ort und Anna-Lena Rupp. Zum Zeitpunkt des Interviews waren alle drei Studierende der Universität Bern mit Interesse an Religionswissenschaft.